Mediation 4.0
Für die Wirtschaft liegt der Mehrwert von Mediation darin, dass die Arbeitsfähigkeit gesichert oder wiederhergestellt wird. Mediation nutzt eine Prozesslogik, mit der sie die Verständigung fördert. Nimmt die Komplexität zu (z. B. durch Industrie 4.0, Multikulturalität), stößt die bisherige Prozesslogik schnell an Grenzen: Der erforderliche Zeitbedarf überfordert die Geduld der Beteiligten und es fällt ihnen manchmal schwer, sich auf das Verfahren einzulassen.
Mediation 4.0 nutzt eine Prozesslogik, die Arbeitsfähigkeit leichter und schneller herstellt und dadurch die Attraktivität und Akzeptanz von Mediation erhöht.

Der Alltag professioneller Mediation
Die Bereichsleiterin eines Münchner Hightech-Unternehmens runzelt die Stirn: »Wenn Sie sagen, Sie brauchen meine Leute für 1,5 Tage zur selben Zeit am selben Ort, dann haben wir gleich das nächste große Problem. Das achtköpfige Team ist auf vier Standorte verteilt: Helsinki, Paris, Madrid und München. Alle sechs Wochen treffen sie sich für einen Tag hier in München. Abzüglich Flughafentransfer und Mittagspause beträgt die Netto-Arbeitszeit drei Stunden. Mehr ist da nicht drin. Diese Zeit muss reichen, damit die Kooperation wieder funktioniert. Kriegen Sie das hin?«
Anforderungen dieser Art nehmen deutlich zu. Zum chronischen Zeitmangel gesellen sich zwei weitere Phänomene: »Ich bin hier bei der Arbeit und werde nicht darüber sprechen, wie mir persönlich zumute ist – das geht niemanden etwas an«. Das dritte ebenfalls deutlich
wachsende Phänomen ist »Null Bock auf Drama«, das bei den Generationen Y und Z mitunter besonders stark ausgeprägt ist.
Ressourcenknappheit, Selbstschutz und emotionaler Pragmatismus sind drei Phänomene, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Vor ca. 30 Jahren schwappte die Mediation nach Deutschland. Zu dieser Zeit war auch das Ausleben von Gefühlen in Encounter-Gruppen en vogue. Heute ist diese Begeisterung rückläufig. Es ist absehbar, dass sich diese Tendenz in Zukunft verstärken wird. Entwicklungen wie das »Internet der Dinge« und die »Industrie 4.0« werden die Komplexität erhöhen. Multikulturalität schlägt in die gleiche Kerbe. Gleichzeitig greift der Sog einfacher und heilsversprechender Erklärungsmodelle weiter um sich. Begleitet wird er vom Verzicht auf Eigenverantwortung, denn fremdem Schwarz-Weiß-Denken zu folgen ist
attraktiver, als selbst zu denken.
Wer da die Botschaft von »Förderung der Verständigung«, »Konsens« und »eigenverantwortliche Entscheidungen« in die Welt trägt, braucht eine zunehmende Frustrationstoleranz und ein noch größeres Sendungsbewusstsein. Mediation als »konstruktive Form der Bearbeitung von Streitigkeiten« oder als »Förderung der Verständigung in Konflikten« oder als »Alternative zum Gerichtsverfahren« sind gängige Darstellungen der aktuellen Mediation. Sie wird weiterhin Bestand haben, wenn auch auf einem bestenfalls mäßig steigenden Verbreitungsgrad – wie die Evaluation des Mediationsgesetzes in eindrucksvoller Form belegt. Die Ursachen dafür liegen in der Mediation selbst, in ihrer Prozesslogik.
Mediation ist nicht gleich professionelle Mediation
MediatorInnen sind DienstleisterInnen, die Mediation anbieten. Dafür bearbeiten sie Kontexte, in denen Mediation stattfinden kann. Der Kontext ermöglicht Mediation und begrenzt sie gleichzeitig auch. Es ist gängige Praxis, das Ideal der Mediation ohne Kontextbezug zu beschreiben. Klar ist, dass dieses Ideal nicht ausreicht, um die Realität einer professionellen Dienstleistung abzubilden. Ebenso klar ist, dass sich die Realität vom Ideal unterscheidet.
Das gilt auch für die Realität professioneller Mediation im Kontext von Unternehmen. Dort erhalten einige Ideale der Mediation nachrangige Bedeutung, sind nur indirekt relevant oder
werden sogar abgelehnt, wie beispielsweise die Förderung der Verständigung. Sie ist kein Selbstzweck, sondern dient der Arbeitsfähigkeit. Damit werden Ziele und Ergebnisse besser und leichter erreicht. Auch Grundsätze wie Freiwilligkeit und Ergebnisoffenheit müssen im Kontext von Unternehmen anders definiert werden als im privaten Kontext. Gleiches gilt für Nachhaltigkeit. Im privaten Kontext lässt sie sich leicht an der Dauer der Tragfähigkeit einer Vereinbarung messen. Würde dieser Maßstab auf Unternehmen übertragen, wäre nur ein Bruchteil gelungener Mediationen nachhaltig. Permanente Veränderungen wie Umstrukturierung,
Strategieänderung, Personalwechsel, Budgetkürzung, Marktdynamik usw. verändern Bewertungsmaßstäbe und Prioritäten. Das kann dazu führen, dass Vereinbarungen hinfällig oder bedeutungslos werden.
All das verdeutlicht, wie bedeutsam der Kontext für professionelle Mediation ist. Wenn sich Kontexte (z. T. radikal) ändern, müssen das auch begleitende Verfahren tun. Ich spreche dann von »Mediation 4.0« und beschränke mich auf den Kontext »Unternehmen«. Die »klassische« Mediation, wie wir sie alle kennen, will ich hier verkürzt »Mediation 3.0« nennen.
»Mediation 4.0«: Die Zukunft professioneller Mediation in Unternehmen
Die zukunftsweisende »Mediation 4.0« für den unternehmerischen Kontext basiert auf der Idee der Dienstleistung, die den KlientInnen Lösungen für ihre Probleme bietet. Und das zentrale Problem ist und bleibt es, die Zusammenarbeit so zu gestalten, dass durch sie ein Mehrwert entsteht. Genau das kann »Mediation 4.0«: Sie versteht sich als »Profession der Lösungsbeschaffung bei Problemen in der Zusammenarbeit« und erfreut sich zunehmender Attraktivität.
Betrachten wir zunächst die Gemeinsamkeiten von »Mediation 3.0« und »Mediation 4.0«

Ziel:
Veränderung bewirken
Eine als negativ bewertete Situation soll zu einer positiv bewerteten Situation werden. Die Zusammenarbeit soll so gestaltet werden, dass durch sie ein Mehrwert für Beteiligte und Unternehmen entsteht. Das erfordert veränderte Handlungen der Beteiligten.
Weg:
Beteiligte unterstützen
Die Beteiligten gestalten ihre Veränderung autonom und eigenverantwortlich. Mediation unterstützt den Prozess.
Wenden wir uns nun den Unterschieden zu und welcher Logik sie jeweils folgen. Der Paradigmenwechsel besteht in der Änderung in der Reihenfolge der Prozesslogik und veränderten Grundannahmen zum Abbau von Frustrationen.
Der Ablauf von »Mediation 4.0« ist zweiteilig. Der erste Teil ist von einer problemorientierten Betrachtung der Vergangenheit geprägt. Belastendes kommt auf den Tisch, ohne dass darüber diskutiert wird. Als einzige Dialogform sind Verständnisfragen erlaubt. So entsteht nach und nach aus den einzelnen Mosaiksteinen individueller Betrachtungsweisen ein Gesamtbild
der gemeinsamen Realität. Widersprüche werden nicht aufgelöst, sondern bleiben als gleichberechtigte Realitäten nebeneinanderstehen.
Die Folge: Eskalation wird ausgebremst, da niemand um seine Wahrheit kämpfen muss. Dabei erleben die Beteiligten die wohltuende Wirkung der Akzeptanz von Unverständlichem, die sie meist auch ziemlich schnell verinnerlichen. So stellt sich Entspannung ein.
Sie ist der Wegbereiter für den zweiten Teil, bei dem ein lösungsorientierter Blick in die Zukunft gerichtet wird. Schritt für Schritt wird es dabei konkreter. Es beginnt mit allgemeinen
Lösungsideen, fragt nach gewünschten Beiträgen anderer und eben auch nach dem eigenen Beitrag: »Was muss geschehen, damit die Ziele erreicht werden? Von wem wünschen Sie sich was? Welche Ihrer Handlungen verändern Sie so, dass die gewünschte Veränderung eintritt?«
Es ist immer wieder verblüffend zu erleben, wie sich im zweiten Teil eine Bereitschaft zur Kooperation entfaltet. Dieses Phänomen setzt sich auch in der Tragfähigkeit der Ergebnisse fort. Was wegfällt, sind eskalationsfördernde Ursachenanalysen und langwierige Bedürfnisklärungen.

Fazit
Mediation hilft dabei, den Weg von einem unerwünschten IST zu einem gewünschten SOLL zu gestalten. Dabei stehen zwei unterschiedliche Wege zur Verfügung mit jeweils spezifischen Grundannahmen, Haltungen sowie eigener Wirk- und Prozesslogik.
Der bedürfnisfokussierte Weg der »Mediation 3.0« führt durch das steinige Tal der Tränen.
Der ergebnisfokussierte Weg von »Mediation 4.0« baut eine gläserne Brücke über dieses Tal. Bildhaft ausgedrückt werden vorhandene Bedürfnisse zwar gesehen, jedoch nicht ergründet. Beide Wege erreichen das gleiche Ziel, wenn auch in deutlich unterschiedlicher Zeit.
Beide Wege von IST nach SOLL sind möglich, beide haben ihre eigenen Qualitäten. Professionalität ist die Fähigkeit, das eigene Tun in Kontexte einzuordnen. Wenn die gebotene Situation »Mediation 3.0« nicht als optimal erscheinen lässt, erhält diese mit »Mediation 4.0« eine wertvolle Ergänzung – und umgekehrt.

Literatur
Kreuser, Karl/Robrecht, Thomas: Wo liegt das Problem? Frankfurt am Main, 2016.
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Evaluation des Mediationsgesetzes (Juli 2017),
http://www.foev-speyer.de/de/beratung/ingfa/projekte/evaluation-mediationsgesetz.php (05.11.2017).